Von der 1. Tagung der 6. Hauptversammlung

Rede Gesine Lötzsch

Liebe Genossinnen und Genossen, 

viele Menschen verstehen die Welt nicht mehr. Sie ziehen sich ins Private zurück und hoffen, dass sie von den chaotischen Verhältnissen nicht in den Abgrund gerissen werden. Ja, die Welt ist aus den Fugen. Wir erleben schreckliche Kriege, dramatische Flüchtlingsbewegungen und Wetterkatastrophen. 

Wir müssen uns fragen, was die Ursache all dieser Probleme ist. Wir können uns den Kapitalismus einfach nicht mehr leisten. Die Suche nach der höchsten Rendite durchdringt alle Lebensbereiche. Ich denke dabei nicht nur an Waffenexporte. Die Skandale im Gesundheitswesen zeigen, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern der Profit, den man aus einem Patienten ziehen kann. Das wird sehr deutlich in dem neuen Dokumentarfilm „Der marktgerechte Patient“. 

Die sieben reichsten Männer der Welt besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das kann einfach nicht gut gehen. Deshalb ist für uns die entscheidende Frage, die gerechte Verteilung des Reichtums. Diese Frage stellt sich global, aber auch in Lichtenberg. Wir sind die Partei, die die Verteilungsfrage jeden Tag stellen muss. 

Im Bundestag habe ich kritisiert, dass der beschlossene Mindestlohn von vielen Unternehmen nicht eingehalten wird.  In meinem Büro rief nach meiner Rede ein Bauarbeiter aus Brandenburg an und erzählte, dass er nach der Bausaison gefragt wird, ob er seine Überstunden bezahlt bekommen möchte. Wenn er ja sagen würde, bräuchte er sich bei der Firma nicht mehr in der nächsten Saison zu bewerben. So wird der Mindestlohn umgangen. Die anderen Fraktionen haben dieses Problem nicht in der Debatte angesprochen. Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, sind wir oft die Einzigen, die den Finger in die Wunde legen.  

Es gibt ganz viele Menschen, die große Hoffnungen in unsere Partei setzen. Wir dürfen sie nicht enttäuschen. 

Am vergangenen Donnerstag habe ich im Bundestag zur geplanten Änderung des Grundgesetzes gesprochen.  

Zum Schluss meiner Rede sagte ich, dass wir allen vernünftigen Vorschlägen zustimmen würden und DIE LINKE schließlich die Partei  der Vernunft sei. Meine Fraktion war begeistert und es gab allgemeine Heiterkeit. Ich wollte natürlich nicht nur einen guten Gag landen, sondern der Satz war als ernsthafter Appell an uns alle.  

Ja, machen wir nicht immer den Eindruck, dass wir vernünftig sind. Die Diskussion um den Migrationspakt könnte diesen Eindruck verstärken. In dieser Woche haben allerdings unsere Berliner Abgeordneten Petra Pau und Stefan Liebich uns zu dieser Frage ganz hervorragend im Plenum des Bundestages vertreten. 

Es gibt eigentlich keinen Vorschlag der Bundesregierung, der EU-Kommission oder der Vereinten Nationen, den wir zu 100 Prozent zustimmen können. 

Die neoliberale Ideologie ist wie eine Pest, die versucht in alle Institutionen einzudringen.  

Wie können wir in einer immer komplizierter werdenden Welt als Partei vernünftig handeln? 

Indem wir ganz klare Prioritäten setzen. Wir dürfen nicht jedes Problem zur Grundsatzfrage erklären. Wir dürfen nicht jede Entscheidung zur Schicksalsentscheidung für unsere Partei aufbauen.  

Vernünftig ist, wenn wir uns streiten auch darüber nachzudenken, welche Lösungen wir anstreben und welche  Auswege wir für die streitenden Seiten zulassen. 

Die Linken in Deutschland und in der ganzen Welt haben sehr schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Schauen wir uns in Europa um. Was ist aus der großen IKP und der stolzen FKP geworden? Entweder existieren sie nicht mehr oder sie sind so klein geworden, dass sie in der Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. 

Keiner von uns kann die zahlreichen Spaltungen der Linken aufzählen, geschweige denn die Streitigkeiten nachvollziehen. Wir alle wissen aber, dass Spaltungen der Linken immer zu Siegen der Rechten geführt haben.  

Liebe Genossinnen und Genossen, 

lasst uns einen kühlen Kopf bewahren. Jede und jeder sollte dazu beitragen, dass es nicht zu einer Spaltung der LINKEN kommt. 

Sollte Friedrich Merz CDU-Vorsitzender werden, dann sind Neuwahlen im nächsten Jahr nicht ausgeschlossen.  

Es wäre fatal, wenn wir dann zwei Parteien hätten, DIE LINKE und Aufstehen, die sich gegenseitig die Wählerinnen und Wähler rauben. Zwei Parteien mit 4,9 Prozent, die den Einzug in den Bundestag verpassen würden. Dieses Szenario wäre eine Katastrophe. 

Ich hatte Sahra Wagenknecht nach Hohenschönhausen eingeladen, um mit ihr über ihre Arbeit als Fraktionsvorsitzende zu sprechen. Natürlich haben wir auch über Aufstehen gesprochen. Sie hat immer wieder gesagt, dass sie keine Partei gründen will und Aufstehen eine außerparlamentarische Bewegung sein soll. Dieses Versprechen sollten wir zur Kenntnis und Sahra beim Wort nehmen. 

Bei allen meinen Aufgaben – sei es als Parteivorsitzende , sei es als Bezirksvorsitzende, sei es als stellvertretende Fraktionsvorsitzende – war und ist es mir wichtig, die Partei zusammenzuhalten und eine Spaltung zu verhindern. Es war mein Anliegen, unseren Bezirksverband nach den heftigen Auseinandersetzungen um die Bürgermeisterwahl wieder zusammenzuführen. Es ist relativ leicht, eine linke Partei auseinanderzutreiben, es ist aber sehr schwer, sie zusammenzuhalten. Jede und Jeder ist aufgefordert, etwas für den Zusammenhalt unserer Partei zu tun. Wer eine Entscheidungsschlacht erzwingen will, handelt verantwortungslos. 

In Lichtenberg ist es uns als Partei gelungen, die internen Streitigkeiten zu beenden und zur Sacharbeit überzugehen. Wir haben jetzt wieder mehr Zeit, uns den Fragen und Problemen der Bürgerinnen und Bürger zu zuwenden.  

Das tut unsere BVV-Fraktion und unsere Mitglieder des Bezirksamtes. Doch das allein würde nicht reichen: Jede Genossin und jeder Genosse ist aufgefordert, mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen. Das gelingt uns immer besser. Mindestens einmal im Monat sind wir auf den Straßen Lichtenbergs zu sehen. Wir verteilen die „info links“, Tomaten gegen Hartz IV, Rosen zum Frauentag, Äpfel im Herbst und Lebkuchen zum Nikolaus.  

Wir bekommen viele positive Reaktionen. Es bleibt dabei, DIE LINKE ist die Partei für den Alltag. 

In unserem Tätigkeitsbericht haben wir auch den Wahlkampf angesprochen. Wir sind die stärkste Partei in Lichtenberg. Wir haben aber auch Stimmen verloren. Wie ihr wisst, ist Lichtenberg ein sehr dynamischer Bezirk. Allein 2013 sind fast 24.000 Menschen nach und 20.000 aus Lichtenberg weg gezogen. Lichtenberg wird weiter wachsen. Die Menschen, die zu uns kommen, kennen vielleicht unsere Politik nur aus den Medien. Es ist wichtig, dass sie uns auch persönlich kennenlernen. Das geht natürlich nur, wenn wir uns offen und diskussionsbereit als Linke zu erkennen geben. Ich habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Natürlich hoffe ich, dass möglichst viele Neu-Lichtenbergerinnen und Lichtenberger den Weg in unsere Partei finden werden.  

Dazu müssen wir etwas experimentierfreudiger werden.  

Seit einem Jahr führe ich regelmäßig eine Veranstaltung „jung&kritisch“ in der Kneipe „Altes Rathaus“ durch. Ein junger Mann hatte nach einer Veranstaltung gefragt, wo er sich melden kann, wenn er bei der LINKEN etwas für die Umwelt tun möchte. Da konnte ich ihm gleich unsere neue Umwelt AG „Rote Beete“ empfehlen. Gerade junge Menschen wollen aktive Politik machen. Sie wollen etwas bewirken. Wir müssen also noch mehr Angebote für unsere Mitglieder schaffen, die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, wie die Soziologen sagen, stärken. 

Als Bezirksvorstand haben wir die Sitzungszyklen verlängert. Wir treffen uns nur alle vier Wochen. Für mich ist die wichtigste Arbeitszeit des Bezirksvorstandes nicht in den Sitzungen, sondern die Zeit zwischen den Sitzungen.  

Wenn wir die Regel der Sozialistischen Partei der Niederlande befolgen würden, nur 30% unserer Zeit für interne und 70% unserer Zeit für externe Parteiarbeit zu verwenden, dann hätten wir viel erreicht.  

Ich bin sehr froh, dass die Ortsverbände - nach einer sehr langen Planungsphase - nun gegründet sind.  

Der Bezirksvorstand hat bereits die Sprecherinnen und Sprecher zu einer ersten Verständigung eingeladen.  

Einige Ortsverbände haben schon Veranstaltungen geplant und durchgeführt. Wichtig scheint mir, dass die Ortsverbände mit ihren Veranstaltungen möglichst viele Lichtenbergerinnen und Lichtenberger erreichen. Da gibt es in einigen Ortsverbänden schon ganz gute Erfahrungen. 

Katina wird ja noch zur Arbeit der Berliner LINKEN sprechen, deshalb kann ich mich kurz fassen, was die Landespolitik betrifft. 

Wenn es um Landespolitik geht, ist mir ein Problem besonders wichtig. Berlin ist mehr als die Innenstadtbezirke. Natürlich freuen wir uns, wenn wir im Stadtzentrum Wählerinnen und Wähler dazu gewinnen. Wenn junge,  gut gebildete Menschen in unsere Partei eintreten.  

Wir dürfen aber nicht die Augen vor den Problemen in unseren Hochburgen verschließen.  

Wir werden unseren Bezirk nicht den Rechten überlassen. Wir werden uns auch mit aller Kraft gegen die Gentrifizierung in unserem Bezirk wehren.  

Wir brauchen mehr preiswerte Wohnungen und weniger Eigentumswohnungen in Lichtenberg. 

Beim Wohnungsbau muss der Grundsatz gelten, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen, die hier schon Jahrzehnte leben, nicht schlechter, sondern besser werden. 

Was ich wirklich gut finde ist, dass der 8. März, der internationale Frauentag, in Berlin Feiertag werden soll.  Ich hätte mir zwar den Tag der Befreiung als Frauentag gewünscht, doch das hat wohl SPD und Grüne überfordert. 

Liebe Genossinnen und Genossen, 

lasst uns auch 2019 offen diskutieren und konkret handeln, so dass unsere Gesellschaft solidarischer, gerechter und friedlicher wird. Zum Schluss möchte ich mich bei allen Genossinnen und Genossen, bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit bedanken. Nur gemeinsam sind wir stark.